Die letzte Stunde der Wahrheit III

Diese Idee der Verbrauchermacht finden die jungen Leute natürlich gut - sie klingt ein bißchen revolutionär, ohne dass man dafür auf die Barrikaden gehen müsste, ist kapitalismuskritisch, setzt aber doch am Mechanismus von Angebot und Nachfrage an. Auch ist darin Solidarität und kollektive Aktion gefragt, der Einzelne ist also eingebettet in etwas Größeres. Die jungen Leute sprechen sich sogleich für die Umsetzung dieser Verbrauchermacht aus, also für einen Mechanismus, mit dem man kollektive Wirkungen erzielen kann. Auf Nachfrage aber erfährt man, dass sie die Milch eben nicht im Bioladen kaufen, der sie von einem "Fairtrade"-Netzwerk bezieht und die in der Region wirtschaftenden Bauern angemessen(er) bezahlen kann. Sie kaufen - bei Aldi. Selbstverständlich würden sie einen Boykott mitmachen, aber faktisch könnten sie sich ihn nicht leisten. Schließlich hätten sie als Studierende eben nicht viel Geld, die Mieten in Städten, München besonders, seien exorbitant, Bachelor-Studiengänge ließen kaum mehr Zeit fürs Jobben, und am Ende handle es sich beim durchgespielten Beispiel ja auch nur um ein Detailproblöem. Die viel schlimmeren Auswüchse des Kapitalismus seien ja nicht in der Milch-, sondern in der Finanzwirtschaft zu beobachten, und erst einmal müsste man die Banker dazu bekommen, nicht so gierig, egoistisch und bonusorientiert zu sein.

Die letzte Stunde der Wahrheit : Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft / Armin Nassehi. Neue Ausgabe. Hamburg: Sven Murmann Verlagsgesellschaft 2017. ISBN: 978-3-946514-58-9