Freiheit: Na aber! Verantwortung (für irgendwas): Bloß nicht!

Manchmal ist es nicht einfach, Zeitzeugin zu sein. Am Montagabend zum Beispiel:

Da hatten sich – wie auch an anderen Orten, wie auch in den letzten Wochen – am Greifswalder Mühlentor die strikten Impfgegner*innen versammelt. Sie erwiesen sich als zu Vielem bereit. Das ging schon damit los, dass der süffisante Hinweis des Veranstalters auf das bei Demonstrationen gemeinhin geltende Vermummungsverbot angesichts der in diesem Herbst selbstverständlich (und vorrangig) geltenden Maskenpflicht sowohl genüsslich ausgewalzt als auch mit offenbar ernst gemeinten (echt jetzt?) Lachern quittiert wurde, als wäre der Witz völlig neu.

Es folgten Zahlenspielereien, die der realistischen Überprüfung natürlich nicht standhalten, während aussagekräftige Zahlen – nur so als Beispiel: Es infizieren sich derzeit etwa zwanzig mal mehr ungeimpfte als geimpfte Menschen mit Corona, die Inzidenz in Vorpommern-Greifswald liegt bei über 600, die Zahl der Ansteckungen unter Kindern geht völlig durch die Decke – noch nicht einmal versehentlich erwähnt wurden. Dafür gab’s Presse- und Medienschelte; offenbar gefiel die Berichterstattung über die letzte Veranstaltung nicht. Da fühlte sich so manche*r sicher richtig gut dabei, den Märtyrer*innen näherzukommen. Natürlich wussten die Redner*innen beeindruckende Dinge zu berichten (Zitate sinngemäß): Deutschland 2021 erinnert an den Stasi-Staat; wir haben in diesem Land keine Gewaltenteilung mehr; die Impfstoffe verfügen nur über Notzulassungen; Ungeimpfte werden diskriminiert. (Unsinn das alles, natürlich.)

Dann passt es ja, wenn man das Spiritual „Oh Freedom“ singt – ein Lied, das nach dem amerikanischen Bürgerkrieg entstanden ist, direkt nach der Befreiung der versklavten Schwarzen Menschen in den USA im Jahre 1865 und eine Hymne der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Da heißt es (unter anderem): „Before I’d be a slave I’ll be buried in my grave…“, also: „Bevor ich als Sklave lebe, will ich lieber tot und begraben sein.“ Als Lehrerin, die gerade mit einer neunten Klasse über das Thema Sklaverei arbeitet, dreht sich mir da der Magen um.

Aber wie schön kann man sich offenbar einrichten in seinem „Wohlstandstrotz“ (Polizei Hannover) und sich als aufrechter Mensch mit freien Gedanken diesem höchst notwendigen Widerstand zur Wahrung der eigenen Privilegien anschließen – unter völliger Missachtung der Tatsache, dass Corona tatsächlich tötet (schon mehr als 5,300,000 Menschen) und alle, die nicht bereit sind, andere zu schützen, nichts weiter zur Schau stellen als ihren eigenen Egoismus, bekräftigt durch dubiose Informationskanäle und gepaart mit atemberaubender Unwissenschaftlichkeit. Dass man dabei Seite an Seite mit politisch aktiven Menschen steht, die von der Demokratie wenig halten, stört ebenso wenig wie ein Schild mit der Aufschrift „Dexter, help!“: Es ist bestimmt eine gute Idee, Hilfe von einem (fiktionalen) Massenmörder zu erbitten (welchen Auftrag würde man ihm wohl erteilen wollen…?)

Irgendwann musste ich gehen: Das Panorama war schwer auszuhalten, und Neues gab es nix zu lernen. Gerade gehen in Hörweite meiner Wohnung eben jene Menschen „spazieren“, die ich vor einer Weile am Mühlentor stehengelassen habe. Sie rufen irgendwas mit „Freiheit“, und es klingt nach heiserem Bellen.

Anne Wolf