Ein Beitrag von Anne Wolf
Seit Wochen versammeln sich jeden Samstagnachmittag auch auf
dem Greifswalder Markt Menschen, die leugnen, dass von einer Ansteckung mit
Corona eine echte Gefahr ausgehen könnte. Die Bestimmungen, die das Risiko
einer Ansteckung vermindern sollen, halten sie nicht nur für überflüssig,
sondern für eine Verletzung der Grundrechte. Nicht Corona sei das Problem,
sondern die Abschaffung unserer Verfassung.
Zunehmend wird diese Samstagsveranstaltung zum absurden
Theater.
Ganz offensichtlich sind die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit amtlich in Kraft, wenn Woche für Woche eine Demonstration
stattfinden kann, der (nicht immer wird der Mindestabstand eingehalten) von
Behörden und Polizei viel Kulanz entgegengebracht wird. Augenscheinlich steht
es auch um die Pressefreiheit im Land gar nicht so schlecht: Zuletzt durften
sich die VeranstalterInnen dieser Mahnwachen über eine ausgewogene, dabei auch
ausführliche Berichterstattung durch die Ostsee-Zeitung freuen (vergangene
Woche erschienen zwei Artikel). Und offenbar hat die abnehmende Zahl der
Menschen auf dem Markt nicht zuletzt damit zu tun, dass die
GutwetterdemonstrantInnen sich zunehmend frei in der Landschaft bewegen können
– da hat man am Wochenende auch schon mal was anderes vor…
Während die Sonne strahlt, alle Cafétische rundum besetzt
sind, Familien flanieren und die KellnerInnen fast die einzigen sind, die
Mundschutz tragen, wird am Mikrophon dennoch gewettert, was das Zeug hält.
Angeblich wünscht man einen offenen Austausch, aber es wiederholen sich jede
Woche dieselben Geschichten und Interpretationen der Wirklichkeit, gern nicht
mehr topaktuell und gern ohne jedes Fundament (zumindest ohne eins, das über
die YouTube-Universität hinausweisen würde). Wenn ein echter Experte (vom Band)
zu Wort kommt, so fehlt seinen Worten der sinnvolle, ursprüngliche Kontext; und
die Urheber der Lieder, die jede Woche wieder erklingen, wären möglicherweise
keineswegs froh über diese Form der Instrumentalisierung. Wagt sich jemand mit
einer anderen (sachlichen) Sicht der Dinge ans „offene“ Mikro, so hagelt es
hinterher Beleidigungen.
Nun mag es für bestimmte Menschen therapeutischen Charakter
haben, ihre persönlichen Sorgen an die Luft zu halten (so wenig diese auch von
der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden); und vielleicht müssen auch manche
Erwachsene unfundierte Rebellionsreflexe ausleben und möchten dabei vergessen,
dass (hoffentlich) auch sie die von ihnen so massiv kritisierte Regierung mit
gewählt haben. Problematisch ist aber, dass sie selbst ihre eigenen Freunde,
die „noch nicht so weit sind“, als „Schlafschafe“ bezeichnen. Und noch viel
problematischer ist es, dass sie der Wirklichkeit offenbar zu entfremdet sind,
um die Unangemessenheit ihrer Allianzen und – vor allem! – ihrer Vergleiche zu erkennen.
Man möchte nämlich die angeblich abgeschafften Grundrechte
auch mithilfe solcher Parteien wiedereinsetzen, die sich die Ausgrenzung aller
Menschen, die anders sind als sie selbst, zum Programm gemacht haben. Man folgt
inhaltlich dem wegen antisemitischer Äußerungen schon vor Jahren vom RBB
entlassenen Ex-Radiomoderator Ken Jebsen. Man nennt LehrerInnen, die derzeit
die organisatorischen Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckung mit dem
Coronavirus umsetzen, „Mitläufer“ und „Duckmäuser“ und stellt sie verbal in
eine Reihe mit jenen, die den NS-Staat nicht verhindert und vor zwei
Generationen für Millionen Tote gesorgt haben. Man heftet sich einen Judenstern
an und behauptet, demnächst würden alle Impfgegner stigmatisiert. Man trägt ein
Plakat mit sich herum, auf dem „Corona = Faschismus“ steht. Man schreibt
„Maulkorb“ auf den Schnutenpulli. Man erklärt, das Kürzel SED stände für
„Staatliche Einheits-Doktrin“. Man singt „Go down, Moses“ – jenes Spiritual, in
dem versklavte Menschen ihre Hoffnung auf ein Ende von staatlicher Gewalt,
Rassismus und Ausbeutung in Musik und Worte fassten.
So bagatellisiert man Diktaturen und Unterdrückung. So zeigt
man, dass einem nicht nur der Sinn für die wahren Aufgaben der Gegenwart,
sondern auch jedes Geschichtsverständnis in beunruhigender Weise fehlt.
Wer wirklich Wert darauf legt, unsere Zukunft auf sachlicher
Grundlage und gemeinschaftlich mitzugestalten, kann nicht mit gutem Gewissen
bei den Samstagswahnmachern stehen bleiben.
Und zu tun gibt es genug. Die vorübergehende Pause in vielen
Bereichen unseres Lebens hat zahlreiche Probleme deutlich ans Licht treten
lassen, die wir zuvor vielleicht nicht wahrnehmen wollten.
Wie halten wir‘s mit der Ökologie? Brauchen wir
Veränderungen in der Gestaltung des Wirtschaftslebens? Welche Unterstützung
benötigen alte Menschen, Familien mit Kindern, alleinerziehende Eltern? Wie
kann das Lernen noch besser gelingen? Wie wertvoll sind uns Kunst und Kultur?
Welche Berufe sind wirklich wichtig, und schätzen wir sie genug? Wie wollen wir
in Zukunft reisen? Wie können wir einander wirklich verbunden sein, so dass
niemand gegen seinen Willen allein sein muss?
Jetzt wird es Zeit, sich mit den Ursachen der Dinge, die uns
negativ ins Auge fallen, zu beschäftigen – und nicht nur mit den Symptomen.
Dafür brauchen wir Vertrauen zueinander und auch in die Menschen, die in
unserem Auftrag Entscheidungen treffen, sprich: Vertrauen in die Demokratie und
in unsere Gesellschaft. Dafür brauchen wir Solidarität – und zwar nicht nur mit
unseren persönlichen Liebsten, sondern mit allen Menschen auf Erden (und dabei
sollten wir nicht vergessen, wie gut es uns – trotz vieler Sorgen – auch jetzt
gerade geht). Dafür brauchen wir Empathie, besonders für diejenigen, die
(angesichts einer ernsthaften gesundheitlichen Bedrohung) am meisten gefährdet
sind. Und bei all dem brauchen wir einen klaren, kritischen und offenen Blick
für die Wirklichkeit. Samstags und an jedem anderen Tag der Woche.
Screenshot der Seite "greifswald-corona.de"