Ein Gastbeitrag von Anne Wolf, geschrieben Sonntagabend
Vor einer knappen Stunde habe ich heute Abend den Dom
verlassen. Auf dem Heimweg: Regen. Kein anderes Wetter hätte ich haben wollen.
Auf dem Heimweg: Kein einziges Wort. Was kann ich sagen, nach Benjamin Brittens
Musik und Wilfred Owens Gedichten?
War Requiem: Dem Titel kann man zwei Bedeutungen
zusprechen. Zum einen: Eine Totenmesse für die im Krieg Gefallenen. Zum
anderen: Eine Totenmesse für den Krieg selbst.
Hätten Brittens Musik und Owens Worte doch nur diese Wirkung
gehabt! Und mögen sie diese Wirkung – wenn auch mit erheblichem zeitlichem
Abstand – heute entfalten.
Owen schrieb seine Gedichte im Schützengraben, und er starb
im Alter von 25 Jahren im November 1918, eine Woche vor der Unterzeichnung des
Waffenstillstands, der den Ersten Weltkrieg beendete.
Benjamin Brittens Werk erklang zum ersten Mal am 30. Mai
1962 anlässlich der Wiedereröffnung der Kathedrale von Coventry in England, die
22 Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe bombardiert
worden war.
Heute Abend füllte das War Requiem den Greifswalder
Dom. Bis zur letzten Minute strömten die Menschen ins Innere des Kirchenraumes.
Fünf Chöre (ein deutscher, drei polnische, ein litauischer), zwei Orchester
(aus Deutschland und Polen) und drei
Solisten (aus Deutschland, Polen und England) waren an der Aufführung
beteiligt. Ich will nicht die weiteren Nationalitäten zählen, die in den
Klangkörpern anwesend waren. Weder Britten noch Owen glaubten daran, dass
Nationalitäten die Menschen trennen, geschweige denn zu Gegnern oder Feinden
machen sollten: Insofern hat der Geburtsort aller Beteiligten keine Bedeutung.
Aber die Tatsache, dass Brittens War Requiem heute in Greifswald und
demnächst in Stettin, Klaipéda und Berlin zu Gehör kommen darf, gemeinsam
erarbeitet von Menschen, die an verschiedenen Orten und in verschiedenen
Kulturen und Sprachen leben: Das ist ein Zeichen. Sie alle wissen, dass
Brittens Musik und Owens Worte jenseits aller Zeiten und Orte gelten. Dass wir
die Erinnerung brauchen, damit wir die Herausforderungen der Gegenwart
verstehen und ihnen begegnen können.
Selten habe ich ein so überzeugendes Konzert gehört. Denn
den Schmerz über die Mechanismen des Krieges vertraten alle, die am
musikalischen Gelingen dieses Abends beteiligt waren, in sehr persönlicher
Weise, weit hinaus über die gewohnte musikalische Professionalität. Was da
mitschwang, das war viel mehr. Uns Zuhörern blieb kein Rückzugsraum vor dem
geradezu heiligen Ernst, vor dem Zorn, vor dem unbedingten Wunsch nach Frieden
und Erlösung in Musik und Worten. Ich wollte auch keinen Rückzugsraum haben;
und, ja: Ich habe geweint. Das war kein Abend für glatte Fassaden, für
intellektuelle Abgrenzung oder kühle Distanz. Nein: Dieses war ein Konzert, bei
dem ich – in Gedanken und mit den Empfindungen ganz bei Britttens Musik, bei
Owens' Gedichten und dem lateinischen Text für eine Totenmesse – all die Bilder
der Gegenwart vor mir sah, Bilder, in denen Menschen sterben, bedroht und
getötet von Waffen, die weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg schon zum
Einsatz kamen; und letztlich: getötet von jenem gewaltigen Mangel an
Einfühlungsvermögen und jenem ungeheuren Übermaß an Stolz, das wir als
Menschheit immer noch nicht überwunden haben.
Ich wünsche uns allen, dass es uns gelingen möge, größer zu
sein als unsere niedrigsten Instinkte. Und darum bin ich dankbar für die
Erschütterung des heutigen Abends.