Je länger man liest, desto übler wird's

(Hervorhebungen von uns. Der gesamte Artikel findet sich hier.)

Wer sich in Syrien der Einberufung zum Wehrdienst entzieht, hat keinen Anspruch auf Asyl. So entschied vor wenigen Tagen das Oberverwaltungsgericht Münster. Das Urteil stieß auf Kritik - nun löst die Begründung einen Sturm der Empörung aus.
Von Arnd Henze, ARD Hauptstadtstudio
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Bei der umstrittenen Entscheidung geht es um einen 20-jährigen Syrer, der im Juni 2014 die Einberufung zur syrischen Armee bekam und daraufhin über die Türkei nach Deutschland floh. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm zunächst nur den minderen subsidiären Schutz zu, das Verwaltungsgericht Düsseldorf dagegen ein Anrecht auf Asyl. Diese Entscheidung hob das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster vor einigen Tagen auf.
In der nun veröffentlichten Urteilsbegründung räumt das OVG zwar ein, dass einem Wehrdienstverweigerer zwar Folter und andere Menschenrechtsverletzungen drohten, es sich dabei aber nicht um eine politische Verfolgung handele. Das syrische Regime handele vielmehr so brutal, "weil es die Wehrdienstentziehung als solche im Interesse der Aufrechterhaltung der militärischen Schlagkraft des syrischen Staates zu bekämpfen gilt".
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Weil eine solche Furcht aber ein "kulturübergreifend verbreitetes Phänomen" sei, gebe es nicht nur in Syrien, sondern auch Deutschland eine Reihe von Strafvorschriften gegen die Schwächung der militärischen Schlagkraft.
Das Gericht erwähnt als Straftaten unter anderem Selbstverstümmelung, Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und Meutereien und zitiert dann mit ausdrücklichem Bezug zur gefährlichen Lage in Syrien das deutsche Wehrstrafrecht: "Der Soldat muss die menschliche Regung der Furcht überwinden. (...) Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen."
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In ihrem Urteil bestreitet das OVG Münster, dass der syrische Staat Wehrdienstentziehern eine oppositionelle Gesinnung unterstelle. Die Richter kritisieren dabei nicht nur den UN-Flüchtlingskommissar, sondern auch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, der eine solche politische Verfolgung bejaht hat. Das sei eine "unplausible Spekulation", heißt es in der Begründung.
Um den Asylanspruch abzulehnen, müssen die Münsteraner Richter aber noch einen Schritt weiter gehen und verneinen, dass die syrische Armee generell einen völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Krieg führt. Denn im Asylgesetz gilt ausdrücklich als Anerkennungsgrund, wenn sich ein Soldat der Beteiligung an solchen Verbrechen durch Flucht entzieht.
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Das Gericht streitet zwar nicht ab, dass es solche Kriegsverbrechen bis hin zum Einsatz chemischer Kampfstoffe gebe. Es ordnet solche Verbrechen aber nicht der gesamten Armee, sondern nur einzelnen Truppenteilen zu. Es sei aber nicht sicher, dass der Wehrpflichtige tatsächlich persönlich zu Kriegsverbrechen gezwungen würde. Erst nach seiner Ausbildung "könnte sich überhaupt erst absehen lassen, ob und wie er tatsächlich mit den genannten Handlungen in Berührung kommen könnte".
Im Übrigen sei der Asylbewerber ja gar kein richtiger Wehrdienstsverweigerer, sondern jemand, der sich dem Dienst durch Flucht entzogen habe. Für einen Asylanspruch hätte er dem syrischen Militär "eine inhaltlich ablehnende Erklärung" abgegeben müssen - so, wie das auch in Deutschland geregelt sei.
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Für das Auswärtige Amt ist die Sache allerdings klar. Ohne das Urteil direkt kommentieren zu wollen, wird dort sehr deutlich auf die "katastrophale Menschenrechtslage" verwiesen: "Einschlägige Berichte der Vereinten Nationen und von international tätigen Menschenrechtsorganisationen legen der syrischen Armee schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last", heißt es. Auch die Bundesregierung habe das brutale Vorgehen der syrischen Armee wiederholt und öffentlich aufs Schärfste verurteilt. Auch auf ausdrückliche Nachfrage spricht man im Ministerium bewusst von den Verbrechen "der" Armee - und eben nicht nur von Teilen der Armee.
Für den jungen syrischen Wehrdienstverweigerer gibt es keine Revision gegen das Urteil des OVG Münster. Für ihn bleibt nur der subsidiäre Schutz, der zum Beispiel keinen Familiennachzug erlaubt. Da inzwischen aber verschiedene Obergerichte gegensätzliche Entscheidungen getroffen haben, dürfte es wohl schon bald eine Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in dieser Frage geben.