Zum wiederholten Male gelingt es dem Sozialdezernenten des Landkreises Vorpommern-Greifswald, Dirk Scheer, die Behauptung in der Presse unterzubringen, die Proteste der Geflüchteten in der als Notunterkunft hergerichteten Turnhalle "Feldstraße" in Greifswald seien gesteuert gewesen. Wohlgemerkt, als Behauptung, ohne dass nachgefragt wird, Beweise hat er anscheinend keine. In einem Nordkurier-Interview vom 02.11.16 (leider nicht online) anlässlich einer Integrationskonferenz sagt er auf die Anmerkung des NK, "das Verhältnis zwischen Kreis und Ehrenamtlichen war nicht immer
harmonisch. Vergangenes Jahr gab es Streit um eine
Gemeinschaftsunterkunft in einer Turnhalle..",wörtlich: "Ja, da sind Proteste gesteuert worden. Das ging schon am zweiten Tag
los, nach dem wir eine Notunterkunft errichtet haben. In dieser
Hoch-Zeit im vergangenen Jahr war die Belastung psychisch und körperlich
für alle Beteiligten enorm. Und einige Forderungen, die damals von
Ehrenamtlichen kamen, konnte ich dann auch nicht ganz ernst nehmen."
Vor etwas mehr als einem Jahr wurden ca. 50 Geflüchtete in der Turnhalle, die vom Landkreis euphemistisch "Pufferunterkunft" genannt wurde, obwohl "Not" angesichts der Zustände sicher der bessere Begriff gewesen wäre, untergebracht. War zunächst von Tagen als Übergangsfrist die Rede, wurden daraus Wochen, und das in einer Atmosphäre, die keinerlei Privatsphäre erlaubte.
Nachdem sich die Verhältnisse - ich selber war nahezu täglich dort - trotz gegenteiliger Versprechen nicht besserten, protestierten die geflüchteten Menschen, in dem sie ihre Betten vor die Turnhalle stellten und erst bei konkreten Zusagen zurück wollten, das alles Anfang November 2015.
Es wird Zeit, die Geflüchteten selber zu Wort kommen zu lassen.
Basem: "Was heißt gesteuert? Hält dieser Mann uns für Kinder? Hat dieser Mann
Kinder? Kann er sich denken, wie es ist, die Familie zurückzulassen,
nachdem das eigene Haus zerstört wurde? Kann er sich denken, wie es ist
auf der Flucht zu sein? Wochen oder Monate zu fliehen und dann von einem
Zeltlager in ein Camp in eine Turnhalle geschickt zu werden? So wie ich
mich entschieden habe, meine Familie zurückzulassen, habe ich mich
entschieden auf den Sportplatz zu gehen mit meinen Freunden und meinem
Bett."
Hani [Name von der Redaktion geändert]: Ist das der Mann, der Tage nach dem Streik in der Halle sagte: "Die
Betten sehen gut aus. Er möchte eins testen, aber er hat
Rückenschmerzen? Ist das der Mann, der mit keinem von uns gesprochen
hat? Ist das der Mann, der uns verboten hat, zu den Besprechungen zu
gehen? Ohne Rafael und die Volunteers hätte es ganz viel mehr Probleme
gegeben."
Mohammad [Name von der Redaktion geändert]: "Wir sind erwachsene Männer und brauchen keinen, der uns sagt, was wir
tun. Ihr [gemeint sind die ehrenamtlichen Helfer*innen] ward immer für uns da, habt euch viel Mühe gegeben. Ihr habt
die Arbeit gemacht, für die diese Männer eine Menge Geld bekommen. Ihr
habt eure Zeit, euer Geld, eure Hilfe und eure Liebe gegeben. Wir haben
die Demonstration für uns begonnen und für euch beendet. Weil ihr soviel
Menschlichkeit habt. Weil ihr Freunde geworden seid."
Und die Ehrenamtlichen meinen:
Yitzhak: "Meine gute Erziehung verbietet es mir, darüber zu philosophieren, wer
vom "Geschäft Flüchtling" gesteuert ist.
Nachdem sich die Flüchtlinge bereits zweimal haben von den Helfern vor
Ort beschwichtigen lassen, kam es unweigerlich eines Tages zu dieser
Form eines Protestes. Sie wollten nichts teures, nichts besonderes. Sie
wollten einfach nur mit den Leuten sprechen, die für die Unterbringung
verantwortlich waren. Diese Menschen wollten einfach auch nur gehört
werden. Aus dem Landkreis stellte sich an diesem Tag niemand dieser
Bitte. Stattdessen wird eine Gruppe von ungefähr 20 Helfern und
Freiwilligen, die damals täglich beinahe rund um die Uhr vor Ort war und
sich um die Flüchtlinge kümmerte, verunglimpft und das nachhaltig bis
heute. Daß ein Sozialdezernent es nötig hat, auch ein Jahr danach noch
mit solchen Aussagen an die Öffentlichkeit zu gehen, läßt tief blicken.
Für die Flüchtlingsarbeit hoffe ich, daß die Geister, die Herr Scheer
rief, sich nun nicht mehr verjagen lassen."
Heiko [Name von der Redaktion geändert]: "Von einer Steuerung der Proteste zu sprechen zeigt wieder einmal die
verklärte Sicht der Verwaltung auf die damalige Situation in der
Unterkunft. Tatsächlich haben die ehrenamtlichen Helfer_innen bis
zuletzt alles in ihrer Macht stehende getan, um ihre Freunde von dieser
Form des Protestes abzuhalten und zeigten sich letztendlich auch dafür
verantwortlich, dass diese beendet wurden. Den Vorwurf, man hätte die
geflüchteten Menschen zur Kritik an der Arbeit des Landkreises
instrumentalisiert, wird jede/r der/die damals mehr als eine Stunde
wöchentlich auf dem Gelände verbracht hat weiterhin mit Vehemenz
zurückweisen.
Den Anlass des Protestes bestätigt Herr Scheer
dankenswerterweise im vorliegenden Zitat gleich mit. Die Menschen in der
Unterkunft haben sich mit ihren Forderungen nach menschenwürdiger
Unterbringung oder zumindest der Maximierung der gegebenen Situation
nicht verstanden und ernst genommen gefühlt. Dies hat bei ausnahmslos
allen Betroffenen zu einer enormen Frustration geführt. Auch Geflüchtete
sind eben, anders als es der Verwaltungsapparat zu denken scheint, mehr
als nur Zahlen im System sondern Menschen mit Gefühlen und
Bedürfnissen, die ebenso viel wert sind wie die eines jeden Menschen.
Bevor
Herr Scheer hier also die Kausalkette verdreht und seine Position
benutzt, um die Schuld an den viel beachteten Ereignissen Menschen
zuzuschieben, die medial keine starke Stimme besitzen, sollte er
versuchen, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und für die Zukunft
daraus lernen. Neben der Kritik soll aber auch nicht zu kurz kommen,
dass sich letztendlich alle Beteiligten dankbar für die
Problemlösungskompetenz und die schnelle Auflösung der Notunterkunft
zeigten und nicht wenige der aktiven Helfer_innen es sehr bedauern, dass
das Thema auf Seiten der Verwaltung nach wie vor präsent ist und durch
bestimmte handelnde Personen auch ein Jahr später noch mediale
Aufmerksamkeit erhält. Dadurch entstehen Gräben, die eine produktive
Zusammenarbeit zunehmend erschweren."
Oksana: "Die Vorwürfe, die Herr Scheer äußert, sind ein weiterer Versuch die vor
Ort anwesenden Ehrenamtlichen für jegliche Missstände und Eskalationen
verantwortlich zu machen. Ich war täglich vor Ort, auch an jenem Tage
als die Bewohner ihre Betten raustrugen, aus Frust und Verzweiflung über
ihre Lage und aus Ungewissheit wie und wann sich diese Situation ändern
wird. Eben aus Frust und Verzweiflung, nicht weil ich oder irgendjemand
anderes sie angestachelt hatte. Wir haben alles uns mögliche getan, um
zu vermitteln, zu ermuntern, Hoffnung zu geben und zu deeskalieren. Doch
wenn Versprechen, die gegeben werden, immer und immer wieder nicht
eingehalten werden, dann würden auch Sie irgendwann frustrieren, Herr
Scheer. ( Es war niemals unser Ziel die Fronten aufzuheizen, unser Ziel
war es lediglich den Menschen in der Turnhalle zur Seite zu stehen,
daher hoffe ich, dass es irgendwann möglich sein wird, dass wir alle mit
diesem gemeinsamen Ziel zusammenarbeiten.)"
Birgit: "Am Mittag des 2. November 2015 wurde ich während der Arbeit von der
Freiwilligen Helferin Oksana telefonisch über die
Unruhen in der Turnhalle informiert und um Hilfe gebeten.
K: Die Jungs haben ihre Betten raus gebracht. Sie wollen streiken. Was
sollen wir tun?
B: Wir können nichts tun. Das sind erwachsene Menschen. Klärt sie
nochmals über mögliche Konsequenzen auf. ...
K: Auf uns hören sie nicht wirklich - kannst du kommen und dein Glück
versuchen?
Soviel zu Herrn Scheers Lieblingsvorwurf, ich hätte an diesem Tag die Geflüchteten in den Streik getrieben.
Etwa eine Stunde später war ich vor Ort, ...
Ferner stellt sich mir die Frage, auf welche nicht ernstzunehmenden Forderungen Herr Scheer anspielen möchte? Der Wunsch nach Privatsphäre? Der Wunsch nach einem Ort, an dem sich Menschen zurückziehen können, nachdem sie ewig lang auf der Flucht waren? Der Wunsch nach der Möglichkeit, nach mehreren Wochen in den gleichen Klamotten, einmal vernünftig waschen zu dürfen? Ganz zu schweigen von dem Wunsch, dass man sich mit den Geflüchteten unterhält und nicht über sie urteilt, sie verurteilt und sie offensichtlich umgeht. Herr Scheer hält den Wunsch nach persönlicher Kommunikation also für eine nicht ernstzunehmende Forderung?
Herr Scheer entzieht sich seit Tag 1 der Turnhalle jedwedem Gespräch. Angebote meiner und unsererseits (HelferInnen), lehnte er ab - so er überhaupt auf Anfragen reagierte. Was soll ich dazu noch sagen? Das sagt alles!
Muss die Verwaltung, gerade in postfaktischen Zeiten, eine Behauptung nur oft genug wiederholen, damit sie geglaubt wird?
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