Zum Abgewöhnen

Immer häufiger muss man konstatieren, dass die Bürgerschaftssitzungen in Greifswald zum Abgewöhnen sind und nicht unwesentlich zur Politikverdrossenheit beitragen. Nicht nur, dass die Greifswalder Bürgerschaft im ersten Teil der Sitzung am letzten Donnerstag ihr Verständnis von Partizipation deutlich machte, indem sie Rede- und Stimmrecht für den Frauenbeirat ablehnte, vor allem mit dem Argument, dass die Menschen, die in Scharen den Parteien davonlaufen und der Parteidemokratie den Rücken kehren, bei den Fraktionsmitgliedern der Greifswalder Bürgerschaft bestens aufgehoben seien (Peter Multhauf als Speerspitze der Frauenemanzipation in der Greifswalder Bürgerschaft - nach eigenem Bekunden; was tief blicken lässt auf Multhaufs Verständnis von Selbstvertretungsrechten von Frauen), nicht nur, dass Axel Hochschild durch sein geTrumpel in der OZ deutlich macht, dass Frauen nichts wert sind und darin (wie so häufig) einig ist mit der AfD, deren Bürgerschaftsmitglied Kramer Frauen mit Dackeln gleichsetzt, nein: In ihrem ureigensten Geschäft, der Abstimmung, hat die Greifswalder Bürgerschaft allen Demokratiehassern gestern neues Futter gegeben. Eine geschlagene Stunde hat es gedauert, bis die Stellvertretenden der Bürgerschaftspräsidentin gewählt waren. Und das lag nicht etwa an einer Kampfkandidatur um einen der Plätze (Gerüchten zufolge hat die SPD den zweiten Stellvertreterposten der CDU unter Verlassen der Koalition der "linken" Willigen wieder zugeschustert im Tausch gegen deren Zustimmung zu SoPhi - würde eob einschätzen), sondern am kompletten Verfahrensversagen aller Beteiligten bis hin zu einfachen Zählvorgängen (bis 37 zu zählen, ist schon schwer...) in dem an sich einfachen Akt, 37 Menschen je einen Menschen aus ihrer Mitte für einen Posten wählen zu lassen. Peinlicher geht's kaum mehr!

Die übrige Sitzung plätscherte dann eine Weile vor sich hin, die Beschlussvorlage (BV) zu SoPhi gab dem "linken" Lager nochmals die Gelegenheit, Wähler_innen zurückzugewinnen, indem es über den sozialen Aspekt der Pflege Sprachwolken produzierte, und der FDP, den freien Markt zu beschwören. Die folgenden BV waren das übliche Geschäft der Bürgerschaft. Beispielsweise wurde unhinterfragt und allgemein kopfnickend - übrigens zuckte auch bei Grünen niemand noch nicht einmal mit einer Wimper - die weitere Zersiedelung der Greifswalder Randgebiete und die Fortschreibung der Bodenversiegelung beschlossen durch die Entwicklung von Wohnbauflächen auf dem Acker südlich der Stadtrandsiedlung.

Aber dann wurde es interessant: Der OB ist ja Mitglied der Grünen und muss sich als solcher irgendwie beweisen. Eine Arbeitsgruppe der Bürgerschaft, organisiert von Jörg Neubert, hat seit Monaten das Thema Carsharing inklusive städtischer Fuhrpark diskutiert und vorangetrieben, u. a. mit mindestens zwei Gesprächen mit dem Geschäftsführer der Stadtwerke. Nun war die ganze Sache so weit gediehen, dass es zwei BV gab: Eine zum zentralisierten Fuhrparkmanagement und eine zum Carsharing in Greifswald. Und, oh Wunder, der OB konnte mitteilen, dass er mit den Stadtwerken über genau die Punkte spricht, die in den Anträgen erwähnt werden (nicht, ohne aus dem "Zentralisierten Fuhrparkmanagement" auf den hervorgezauberten Folien ein "ZFpM" zu machen). Beide Vorlagen sind lange in der AG diskutiert und im Senat, im Bau- und im Hauptausschuss vorgestellt worden - zu keiner dieser Gelegenheiten kam der OB auf die Idee, seine Folien einmal vorzustellen oder zu erwähnen, dass er dergleichen Gespräche führe. Erst jetzt, zur Bürgerschaftssitzung, wollte er die Arbeit der Gruppe für obsolt erklären, weil er, welch ein Zufall!, über dasselbe mit den Stadtwerken bereits einen Aktionsplan entwickelt habe. Nur gut, dass die Bürgerschaft trotzdem beiden BV zustimmte - auf niedrigstem Niveau scheint sie den Anflug einer Ahnung von Partizipation zu haben.

Bei der Diskussion um "Deutsche kauft nur bei Deutschen" Parkausweise nur für Bewohner_innen mit Hauptwohnsitz in Greifswald habe ich vorab mitgeteilt, dass ich als Innenstadtbewohner und Parkausweisbesitzer an der Abstimmung nicht teilnehmen werde, da ich mich befangen fühle. Lauthalses Gelächter im rechten Lager.

Die BV zur Ergänzung des Tourismuskonzeptes habe ich zurückgezogen, da ihr Inhalt Eingang gefunden hat in einen umfassenderen Antrag des Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaft, Tourismus und Kultur (wird in der kommenden Ausschussrunde verhandelt).

Und dann gab es ja noch zwei Anträge der AL: Die Regelung der Verhältnisse auf diesem Witz von einer Fahrradstraße Mühlentor bis Domstraße und den Antrag zum Geldeinfordern vom Land für übertragene Aufgaben.

Ersterer hätte auch Einschränkungen für Autofahrende umfasst (wieder heftiges Gelächter im rechten Lager). Allerdings sagte Herr Burmeister (Bürgerliste) zur Überraschung aller, dass er mit dem Rad die Stecke abgefahren und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass es "kein Spass" ist, auf der Fahrradstraße unterwegs zu sein. Er stellte den Änderungsantrag, dass der komplette Text der BV gestrichen und durch einen neuen ersetzt wird: Der OB solle sich angucken, was los sei, und dann Maßnahmen ergreifen. Diesem Änderungsantrag wurde mehrheitlich zugestimmt - ohne Festlegung der Beschlusskontrolle, ohne Erledigungsdatum, ohne Details. Zahnloser Tiger - aber es ging ja auch nur um radfahrende Menschen, nicht um wirklich wichtige Dinge (wie z. B. das Parken von Autos).

Beim zweiten Antrag der AL ging es schon um wichtige Dinge, nämlich um Geld. Der OB sollte laut der BV prüfen, in welchen Bereichen das Land Aufgaben auf die Stadt übertragen hat, ohne sie zu bezahlen (immerhin hat Schwerin durch solche Tricks nicht nur eine schwarze Null, sondern auf Kosten der Kommunen einen Überschuss "erwirtschaftet".) Dies wies der OB zurück mit dem Argument, das sei zu viel Arbeit. Die Bürgerschaftsmitglieder, vor allem die der Schweriner Koalitionsparteien, folgten dem OB in dieser Argumentation und lehnten den Antrag ab.

Schließlich (die eigentlich spannenden Dinge kommen zum Schluss) lehnte die Bürgerschaft einen Antrag der Grünen ab, den Beschluss, bei den Straßenbaumaßnahmen am Trelleborger Weg knapp 50 Bäume abzusäbeln und durch besseres Gebüsch zu ersetzen, nochmals zu überprüfen. Jürgen Liedtke wollte den ungeprüften Beschluss  "knallhart durchsetzen", er fügte die Frage hinzu, wo denn das Vertrauen in die Verwaltung und in die beauftragten Firmen bleibe. Für mich ist dieses Vertrauen seit dem Kahlschlag auf dem Wall, der Rodung des Karl-Marx-Platzes und der Ödnis des ehemaligen ZOB, heute Carl-Paepke-Platz, ziemlich zerrüttet. Für die Bürgerschaft nicht. Da die Abstimmung (nach mehrmaligem Zählen!) 17:17 Stimmen ergab, war der Antrag abgelehnt. Es darf nun hemmungslos durch die vertrauenswürdigen Betriebe gerodet werden.

Angesichts dieser Zustände in den Köpfen der Bürgerschaftsmitglieder fragt man sich schon, ob man seine Lebenszeit außerhalb der Erwerbsarbeit und sein gesellschaftliches Engagement nicht doch lieber in der APO verbringt...