Unnötige Skandalisierung

Wovon lebt Demokratie? Ein wesentlicher Bestandteil ist die Wahl zwischen Möglichkeiten und Personen, zudem die vorherige Diskussion oder Debatte darüber. Ohne diese beiden Merkmale wird es schwer, ein Gemeinwesen als "demokratisch" zu bezeichnen.

Wovon leben Zeitungen? Von der Auflage, damit von Werbung und Leser_innen. Um die Auflage zu steigern, berichtet man nicht über einen Hund, der einen Menschen beißt - eine Meldung gibt es erst, wenn ein Mensch einen Hund beißt. Und wenn denn nun doch nur der Hund den Menschen gebissen hat, so macht die auflagenfixierte Zeitung einen Text, in dem ein Hund einen Menschen "reißt", und schiebt einen Infokasten nach, wieviele Menschen seit Anno Dunnemals von Hunden lebensgefährlich verletzt oder getötet worden sind.

So auch in der Politik. Vom jüngst vergangenen SPD-Parteitag (dass es sich hier um diese Partei handelt, ist reiner Zufall und nur der kürze der Zeit geschuldet) heißt es in einer Situation, in der es mehrere Bewerber_innen auf Listenplätze gibt, dass es sich um "Kampfkandidaturen" handle. In der seligen DDR mag es anders gewesen sein, aber in einer Demokratie ist es gut, wenn es nicht nur eine Wahl, sondern auch Wahlmöglichkeiten gibt! In der Zeitung heißt es:
Reichlich Brisanz birgt der anstehende Parteitag der Landes-SPD am Sonnabend in Neubrandenburg [...] Wenig überraschend: Parteichef und Ministerpräsident Erwin Sellering (Schwerin) steht demnach auf Platz eins, gefolgt von [...]. Spätestens nach Platz acht dürfte es auf dem Parteitag spannend werden, da mit Kampfkandidaturen zu rechnen sei, erklären SPD-Mitglieder. Bei vorderen Plätzen gebe es noch „Beißhemmungen“ gegen die Parteilinie.
Der Skandal ist die im Artikel genannte "Beißhemmung" auf den vorderen Plätzen, darin liegt auch die demokratietheoretische "Brisanz". Dass es mehr Kandidat_innen als Plätze gibt, sollte in einer Demokratie normal sein - also kein Anlass, sprachlich durch "Kampf" und "Brisanz" zu skandalisieren, eher müßte die "Beißhemmung" hinterfragt werden. Hoffentlich weniger martialisch.

Heute lautet die Schlagzeile in der OZ:

Kommunalpolitiker streiten um mehr Sitzungsgeld

Nein. Streit, wie er hier genannt wird, ist ein Wort, das Negatives impliziert. Streit sollte man vermeiden, Streit schadet. Zumindest wenn man in der Komfortzone wohnt oder immer lieb miteinander ist und ausschließlich wertschätzend kommuniziert. Darin sind viele Meister_innen, vor allem dann hinterfotzig ihre Ziele von hinten durch die Brust ins Auge zu erreichen, vornherum aber immer debil freundlich zu lächeln. Wird in der Zeitung Streit erwähnt, so dient dieses Wort dazu, das Negative zu betonen.

Tatsächlich aber ist Diskussion, Debatte, Auseinandersetzung und, ja: Streit im positiven Sinne Kernbereich der Demokratie. In diesem Sinne ist Streit nicht so negativ zu verstehen, wie er in der obigen Überschrift verwendet wird, sondern er ist notwendig auf dem Weg zu einer demokratischen Lösung, mit der dann alle leben wollen und können.

Bitte seid achtsam beim Gebrauch der deutschen Sprache. Skandalisiert nicht das, was den Kern der Demokratie ausmacht. Sonst klettert die AfD mit Eurer Hilfe noch über die 20-Prozent-Marke...