Bewertung der Einsprüche gegen die Oberbürgermeisterstichwahl in Greifswald am 10.05.2015

1. Sachverhalt Gegen die Oberbürgermeisterstichwahl am 10.05.2015 wurden drei Einsprüche erhoben. Dabei wurde jeweils beanstandet, dass das Wahllokal im Stimmbezirk 93 vorübergehend nicht zugänglich gewesen sei. Die Bürgerschaft hat dazu am 08.06.2015 einen Ausschuss zur Wahlprüfung eingerichtet.

2. Bewertungsmaßstab
2.1. juristische Bewertung durch politisches Gremium
Wenngleich die Entscheidung über Wahlprüfungsbeschwerden der Bürgerschaft als politischem Gremium obliegt, so hat eine solche Entscheidung gleichwohl nach engen juristischen Kriterien zu erfolgen. Ein politisches Ermessen ist damit im Unterschied zum üblichen Selbstverständnis des Gremiums zu verneinen.
2.2. Zuständigkeit und Interessenskonflikt
Die Zuständigkeit der Bürgerschaft für die Wahlprüfung ist mit Blick auf mögliche politische Interessen seiner Mitglieder unbefriedigend. Die Frage der Zuständigkeit liegt jedoch nicht in der Hand der Mitglieder der Bürgerschaft und muss hingenommen werden. Zumindest sollte jedoch die weitere Betrachtung in dem Bewusstsein vorgenommen werden, dass diese Konstruktion ein objektives und unbefangenes Urteil erheblich erschwert.
2.3. Persönliche Verantwortlichkeiten
Der unterlegene Bewerber Hochheim ist Teil der Administration, in deren Verantwortungsbereich die Organisation von Wahlen fällt. Dieser Umstand ist allerdings bestenfalls interessant, aber ansonsten irrelevant.
2.4. Ausschluss sachfremder Kriterien
Die Durchführung von Wahlen und die Wahlprüfung sind Kernbereiche der repräsentativen Demokratie und damit sensible Angelegenheiten, die sich deswegen Launen und persönlichen Präferenzen zu entziehen haben. Die Wahlprüfung muss insbesondere den Anspruch erfüllen, dass die Bürgerinnen und Bürger auf das Funktionieren der demokratischen Institutionen und Abläufe vertrauen können. Notwendig ist daher, persönliche Sympathien und Antipathien sowie die damit verbundene Emotion nicht in die Beurteilung einfließen zu lassen. In diesem Zuge sind sämtliche sachfremden Argumente, die an Emotionen appellieren oder Gegenstände der inhaltlichen Auseinandersetzung anführen, zurückzuweisen.

3. Bewertung
3.1. Sachdarstellung
Die Beschlussvorlage 06/361 der Bürgerschaftssitzung vom 08.06.2015 nimmt Stellung zum Vorwurf mangelhafter Wahldurchführung im Stimmbezirk 93. So sei dort der als Zugang für das Wahllokal 93 gekennzeichnete Nebeneingang des Gebäudes im Ernst-Thälmann-Ring zeitweilig verschlossen gewesen. Nach einem entsprechenden Hinweis sei der ordnungsgemäße Zustand unverzüglich wieder hergestellt worden. Ein Bürger gab an, vor verschlossener Türe gestanden zu haben. Er habe seine Stimme jedoch zu einem späteren Zeitpunkt abgeben können. Für einen begründeten Einspruch nachzuweisen ist allerdings eine mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses. Verlangt wird dabei eine nach der Lebenserfahrung konkrete und in greifbare Nähe gerückte Möglichkeit.
3.2. Prüfung der Ergebnisrelevanz
3.2.1. Relevanzkriterien
Für die Frage der Relevanz ist durchaus von Belang, dass das Ergebnis der Stichwahl am 10. Mai mit einem Abstand von 15 Stimmen zwischen beiden Bewerbern knapp war. Eine Relevanz wäre damit bereits dann gegeben, wenn durch den in Rede stehenden Mangel 15 Wählerinnen und Wähler mehr an der Wahl des Bewerbers Hochheim als an der Wahl des Bewerbers Dr. Fassbinder gehindert wurden.
3.2.2. Gründe, die für eine mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses sprechen
3.2.2.1. Behauptung eines Wählers, im Stimmbezirk 93 vor verschlossener Türe gestanden zu sein
Ein Wähler gab an, dass der gekennzeichnete Eingang zum Wahllokal im Stimmbezirk 93 gegen 11 Uhr verschlossen gewesen sei.
3.2.2.2. Angabe seitens des örtlichen Wahlvorstandes
Der örtliche Wahlvorstand bestätigte eine kurzzeitige versehentliche Schließung des Eingangs, welche nach Bekanntwerden unverzüglich aufgehoben wurde.
3.2.3. Gründe, die gegen eine mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses sprechen
3.2.3.1. Heilung des Mangels im konkreten Fall
Der Beschwerde führende Wähler selbst konnte seine Stimme zu einem späteren Zeitpunkt noch abgeben. Der in Rede stehende Vorfall ereignete sich mehr als sechs Stunden vor Schließung der Wahllokale.
3.2.3.2. Alternative Zugänglichkeit
Das Gebäude besitzt zwei weitere Eingänge, die auch von Wählerinnen und Wählern genutzt wurden. Der in der Sachdarstellung beschriebene Terasseneingang ist zudem weithin einsehbar. Darüber hinaus befindet sich am gekennzeichneten Eingang eine Klingelanlage. Auf diese Alternativen angewiesen zu sein ist zwar im konkreten Fall ärgerlich, nicht aber in einer Weise unzumutbar, dass deswegen von einer bedeutenden Behinderung an der Wahlteilnahme gesprochen werden könnte.
3.2.3.3. Fehlen weiterer konkreter Fälle
Der Einspruch ist seit einigen Wochen öffentlich bekannt und wurde in lokalen Medien beschrieben. In der Zwischenzeit gab es keine weiteren Meldungen von Wählerinnen und Wählern aus dem Stimmbezirk 93, sie wären an der Stimmabgabe gehindert worden. Die in der Sachdarstellung ausgeführte Einschätzung seitens des örtlichen Wahlvorstandes, wonach die Beeinträchtigung nur von kurzer Dauer war und es keinen Bruch der Wahlhandlung gegeben habe, erscheint demnach plausibel.
3.2.3.4. Erforderliche Wählerverschiebungen
Ein Vergleich der Ergebnisse zwischen dem ersten Wahlgang und der Stichwahl weist aus, dass der Bewerber Hochheim in keinem Urnenwahlbezirk am 10.05. mehr Stimmen erhalten hat als am 26.04. Für ein um 15 Stimmen höheres Ergebnis im Stimmbezirk 93 wäre dort jedoch ein Stimmenzuwachs erforderlich gewesen. Ein statistischer Ausreißer dieser Art und im erforderlichen Umfang ist zwar nicht auszuschließen, aber sehr unwahrscheinlich.
3.2.4. Abwägung
Auf Basis der oben dargestellten Argumente ist nun zu entscheiden, ob die geforderte Ergebnisrelevanz vorliegt.
3.2.4.1. Stichhaltigkeit
Bei denjenigen Argumenten, die zu Gunsten eines erheblichen Mangels anführt werden, wird der Aspekt der möglichen Ergebnisrelevanz nicht explizit hervorgehoben. Zudem fehlt eine nachvollziehbare Aussage dazu, inwieweit ein Zugang zum Wahllokal definitiv nicht in einem zumutbaren Rahmen möglich war. Die Ergebnisrelevanz ist insofern gemäß der weiteren Erkenntnisse zu beurteilen.
3.2.4.2. Wertung der angeführten Argumente
Eine kurzzeitige Schließung des gekennzeichneten Eingangs zum Wahllokal im Stimmbezirk 93 wird nicht bestritten. Ferner gab es jedoch weitere nicht gekennzeichnete Zugänge zum Gebäude, insbesondere die Nutzung des Terasseneingangs stand hingegen als naheliegende Alternative zur Verfügung, auch vor dem Hintergrund der in Großwohnsiedlungen üblichen Architektur. Es ist kein Fall bekannt, nach dem eine Bürgerin oder ein Bürger tatsächlich nicht in der Lage gewesen wäre, am 10.05. ihre oder seine Stimme abzugeben. Der im einen beschriebenen Fall offenbar eingetretene Mehraufwand ist zwar für den Betroffenen ärgerlich, besitzt jedoch keine Ergebnisrelevanz, da hier letztlich keine Stimmabgabe verhindert wurde. Eine Schließung von bedeutender Dauer kann nicht nachgewiesen werden. Um die Möglichkeit einer Ergebnisrelevanz gemäß den Maßstäben der allgemeinen Erfahrung zu befürworten, reichen die bestätigten Unregelmäßigkeiten nicht aus. Das gilt umso mehr, da die statistische Unwahrscheinlichkeit eines für die Annahme der Relevanz notwendigen aus dem Gesamttrend herausfallenden Teilergebnisses Teil dieser Maßstäbe ist.
3.2.4.3. Schlussfolgerung
Nach Betrachtung und Würdigung des Sachverhaltes und seiner Einzelaspekte ist mithin davon auszugehen, dass es eine Unregelmäßigkeit in der Wahldurchführung im Stimmbezirk 93 gegeben hat. Für die Möglichkeit einer Ergebnisrelevanz können jedoch keine hinreichenden Belege angeführt werden.
3.3. Weitere Aspekte
Die Möglichkeit einer Wahlwiederholung, sei es in der ganzen Stadt oder im Gebiet des betroffenen Briefwahlbezirks, wirft weitere Fragen und Probleme auf. Sie beeinflussen zwar nicht die juristische Wertung im engeren Sinne, behandeln aber den einleitend angesprochenen Aspekt des Vertrauens in die Institutionen und sind daher wenigstens in einem weiteren Sinne bedeutsam.
3.3.1. Voraussetzungen einer Wiederholungswahl
Eine Wiederholungswahl wird nie unter den gleichen Voraussetzungen und Umständen stattfinden können wie die eigentliche Wahl. Ein anderer Wahltermin hat gerade in einer Stadt hoher Mobilität Einfluss auf die Zusammensetzung des Elektorats. Eine Wiederholungswahl begünstigt im Zweifel auch denjenigen Bewerber mit den größeren materiellen Ressourcen.
3.3.2. Amtsbonus
Im Raum steht zudem die Frage der kommissarischen Amtsführung im Zeitraum einer möglichen Vakanz des Oberbürgermeisteramtes. So könnte der scheidende Oberbürgermeister Dr. König auf die die Ausübung der Funktion eines Amtsverwesers zu Gunsten seines ersten Stellvertreters Hochheim verzichten. Die Möglichkeit, dass im Falle einer Wiederholungswahl durch entsprechend zielgerichtetes Vorgehen der Bewerber Hochheim mit einem Amtsbonus antritt, ist daher nicht von der Hand zu weisen.
3.3.3. Motivation
In Anbetracht dessen, dass bei den beschriebenen Unregelmäßigkeiten in einem Wahllokal die Möglichkeit einer Ergebnisrelevanz nicht nachgewiesen werden kann, muss mithin die Frage erlaubt sein, ob hier nicht ein Konstrukt vorliegt, mit dem eine Entscheidung aus sachfremden Motiven herbeigeführt werden soll. Es muss an dieser Stelle daher wiederholt werden, dass ein Handeln aus solchen Motiven nicht im Ermessen der Wahlprüfung liegen darf. Anderenfalls droht ein schwerwiegender Vertrauensverlust gegenüber den demokratischen Institutionen.

4. Ergebnis
4.1. Sachliche Bewertung
Der Einspruch gegen die Gültigkeit der Oberbürgermeisterstichwahl ist unbegründet.
4.2. Vergleichende Bewertung
Der Verdacht, mithilfe des Einspruches sollten Tatbestände fingiert werden, um in einer Wiederholungswahl ein anderes Wahlergebnis herbeizuführen, ist wenigstens plausibler als die im Einspruch genannten Argumente.
4.3. Konsequenz
Der Einspruch ist zurückzuweisen.


Kommentare

  1. Manfred Peters2/7/15 00:17

    Es wäre ja hilfreich, wenn deutlich dargestellt würde, wer die Bewertung vorgenommen hat, der Einsteller, ein gewähltes oder zufälliges Gremium, ein Jurist, ...?

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  2. Das ist eine sehr sinnvolle Abwägung, vielen Dank!

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  3. Ok, das ist eine schön nüchterne Darstellung einiger Fakten. Manchmal ist eine Bewertung implizit. Die Frage, ob Seiteneingänge und Klingel relevant sind, müsste zumindest mal gestellt werden.

    Ganz entscheidend ist aber das Kriterium, welches sich hier in 3.1 versteckt hat:

    "Für einen begründeten Einspruch nachzuweisen ist allerdings eine mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses. Verlangt wird dabei eine nach der Lebenserfahrung konkrete und in greifbare Nähe gerückte Möglichkeit."

    Wie kommst du darauf? Welches Gesetz zitierst du hier? Ich fürchte, dass andere Regeln gelten.

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  4. @FBMri: Eine mögliche Beeinflussung des Wahlergebnisses ist nachzuweisen. Das ist ständige Rechtsprechung des BVerfG und der Verwaltungsgerichte. Der Grundsatz gilt für alle möglichen Wahlen. "Eine ordnungsgemäße Begründung verlangt eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann" http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/01/cs20090115_2bvc000404.html

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    1. Hallo,

      ich bin gespannt, wie sich das gegebenenfalls zum Kommunalwahlgesetz § 40 verhalten wird.

      "(2) Sind bei der Vorbereitung der Wahl oder bei der Wahlhandlung Unregelmäßigkeiten vorgekommen, die das Wahlergebnis oder die Verteilung der Sitze aus den Wahlvorschlägen im Einzelfall beeinflusst haben können, so ist festzustellen, dass die Wahl zu wiederholen ist."

      Da ist jetzt die Frage, ob beide Zitate gleich sind, oder unterschiedliche Aspekte abdecken. Für mich sieht es so aus, als ob die Passage vom Bundesverfassungsgericht festlegt, was als Wahlfehler anzuerkennen ist. Ich glaube, der Sachverhalt ist durchaus als Wahlfehler anerkennbar. Dann kommt das Kommunalwahlgesetz als nächster Schritt und da reicht dann die bloße Möglichkeit aus, dass es Einfluss gehabt haben könnte.

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    2. Nein, das bezieht sich nicht auf das Vorliegen eines Wahlfehlers, sondern auf die Frage der Ergebnisrelevanz. Übernommen wurde der Maßstab aus der Darstellung der Wahlleiterin (http://www.greifswald.de/uploads/media/B173-07-05_Einsprueche_gegen_die_Gueltigkeit_der_Oberbuergermeisterwahl__Stichwahl__vom_10.05.2015.pdf), die darin auf eine Entscheidung des OVG Thüringen verweist, welches wiederum andere OVGe zitiert. Es handelt sich um einen in ständige Rechtsprechung angewandter Maßstab.

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    3. Wenn man die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht nachliest, stellt man fest, dass die zitierte Passage auf Randziffer 19 die (hohen) Darlegungsanforderungen für die Zulässigkeit eines Verfahrens beim BVG betrifft. Mit der Begründetheit einer Wahlanfechtung hat das wenig zu tun, außerdem handelt es sich in Greifswald um Landesrecht.

      Der Wahlfehler ist klar (Wahllokal war nicht auf dem ausgewiesenen Weg erreichbar), der Punkt ist, ob er kausal für das Wahlergebnis geworden sein kann. Das werden am Ende so oder so Gerichte entscheiden. Ob man eine Leerformel ("beeinflusst haben können") durch eine andere ("eine nach der Lebenserfahrung konkrete und in greifbare Nähe gerückte Möglichkeit") ersetzt, bringt wenig Erkenntnisgewinn. Die Wahl war eben extrem knapp, am umgekehrten Fall scheitern die allermeisten Anfechtungen.

      Der Artikel leidet ein bisschen an dem Problem, dass er ein bisschen Sachverhaltsquetsche ist. Es steht nicht fest, dass die Tür "nur kurze Zeit" verschlossen war. Die Klingel wies nicht auf das Wahllokal hin und dem normalen Wahlbürger ist nicht abzuverlangen, dass er nach alternativen Eingängen sucht. Das Wahlrecht ist ein hohes Gut, man muss nicht besondere Bemühungen unternehmen, damit man wählen darf.

      PS: Alles was unter 3.3. kommt, ist juristisch ohne Relevanz.

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  5. Eine sehr fundierte Analyse mit dem Fazit das Wahlergebnis zu akzeptieren. Dies geschrieben von Jemandem der unter Herrn Fassbinder gelitten hat. Da ziehe ich gerne den Hut. Hoffentlich strahlt diese Haltung ein wenig aus

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    1. Der Mann leidet auch unter der Frau, die er vergewaltigt hat. (Okay, das ist mit absichtlich überzeichnet. Aber körperliche Gewalt so derart zu verharmlosen ist wirklich unpassend für Menschen, die sich als progressiv verstehen.)

      Hoffentlich strahlen ihre Sätze nicht aus.

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